Hilfe für Tigray

Vorbemerkung: In der ersten Aprilhälfte bin ich zwei Wochen durch Äthiopien gereist. Die erste Reportage, in der ich aus Tigray berichte, ist am 4. Mai in der ZEIT erschienen: Der Schrecken des Friedens. Hier einige Schnappschüsse, mit dem Smartphone aufgenommen. Die Menschen bzw Situationen, die darauf zu sehen sind, werden in der Reportage näher beschrieben. Da keine Akkreditierungen für Tigray vergeben werden und ich nicht als Berichterstatter auffallen durfte, mußte ich ohne Photographen reisen. Ganz unten ist eine Möglichkeit angegeben, über das Hilfswerk Avicenna e.V. drei Projekte in Tigray direkt zu unterstützen.
Die Reise durch Ostafrika, von der ich regelmäßig in der ZEIT berichte und über die ich ein Buch für C. H. Beck schreiben möchte, wird unter anderem durch einen Zuschuß der Mercator-Stiftung ermöglicht.N.K.

Aksum: Station für Kinder mit Mangelernährung, aber selbst hier gibt es nicht genügend Nahrung.
Im 7. Monat geboren, mit 700 Gramm. Jetzt sechs Wochen alt, wiegt 840 Gramm, bekommt nicht genug Nahrung durch die Sonde. Bereits die Mutter unterernährt, starb bei der Geburt. Meine Tochter kam ebenfalls im siebten Monat zur Welt, mit 1450 Gramm und deutscher Intensivmedizin. Hatte im neunten Monat ihr Normalgewicht erreicht.
Diese Frau haben wir nachmittags aufgegabelt, war seit dem frühen Nachmittag gelaufen und wäre noch bis zum Abend gelaufen, 48 KM zurück, tags zuvor 48 KM hin. Gibt kaum Busse, alle zerstört oder geraubt, und sie hat ohnehin nicht das Ticket für umgerechnet 1,30 Euro.
800.000 Binnenvertriebene hat Tigray, bei einer Bevölkerung von 6 Millionen (in der Mitte Me’asho Fiseha, die ich in ebenfalls der Reportage zitiere).
.
So sehen praktisch alle Klassenzimmer in Tigray aus.
Und das ist, was einmal eine Schule war und vielleicht noch für Jahre ein Flüchtlingscamp bleiben wird.
Sämtliche Kinder haben seit drei Jahren keinen Unterricht; erst Corona, dann Krieg, noch auf lange Zeit die Flüchtlingscamps.
Vom UNHCR, der die Flüchtlinge versorgen soll, ist häufig nur ein solches leeres Versorgungszelt zu sehen, zumal außerhalb der größeren Städte.
Ein Hilferuf von Flüchtlingen, den ich in einer Schule in Abiy Addi aufgenommen habe. Hier eine kursorische englische Übersetzung. Hier eine kursorische englische Übersetzung:
A cry for help while on the verge of death from hunger
The Tigray War caused the folks in this video image to be internally displaced. They are currently staying in ‚Temben Abiy Addi‘ Tigray, Ethiopia, in a makeshift shelter.
 Two responded as follows when questioned about their origins and current state.
 The first respondent replied, „We are from ‚May Lemin Tabya‚, Tsegede district, West Tigray, and we are currently in ‚Abi Adi, Tenben.‘ During our stay here, we are facing major difficulties. Even though we repeatedly reported the situation to the appropriate authorities and expected assistance, nothing happened. As a result, we are famished and on the verge of death. If we do not get help right now, we will perish. We thus request assistance from all parties involved as soon as possible,“ he stated.
 „We have lived here for more than two years, but we have not gotten any helpful assistance,“ the second responder said. He concluded his speech by asking for help from the Red Cross and the UN in light of their critical situation.
 When both finished, the rest of the crowd applauded.
Sexuelle Gewalt war eine Kriegswaffe, die systematisch eingesetzt wurde: In jedem Dorf, in dem wir anhielten, sofern sich die Bewohner nicht rechtzeitig in die Berge flüchten konnten, wurden Frauen vergewaltigt. Diese hier 58 Jahre, sieht aus wie 70, hat danach ihr Dorf verlassen, weil sie die Schande nicht ertrug – sie sagt, weil sie niemanden traurig machen wollte. Nennt sich Mebrehit, weil sie ihren wirklichen Namen nicht nennen möchte – das bedeutet „Sie ist ein Licht“.
Mebrehit lebt nun seit beinah zwei Jahren allein hier.
Die Krankenschwester im Krankenhaus von Mekelle berichtet von den typischen Fällen in der psychologischen Ambulanz: fast alle vergewaltigt, die meisten mehrfach und von Gruppen, daneben auch Säureattacken, Acyd und Phosphor, viele mit Infektionen im Unterleib, die sie auf dem Ultraschall erkennen, aber nicht behandeln können, weil die Medikamente selbst nach dem Friedensschluß noch fehlen. Die Teams der Gesundheitsbehörde hätten in Tür-zu-Tür-Befragungen bisher 460.000 Frauen erreicht. 120.000 hätten anonym angegeben, im Krieg massive sexuelle Gewalt erfahren zu haben, das jüngste registrierte Opfer zwei Jahre alt, das älteste 78. Und bisher seien die Teams vor allem in der Nähe der Städte ausgeschwärmt, auf dem Land sei es noch schlimmer. In den Dörfern, durch die wir kamen, jedesmal das Nicken, wenn wir fragten, ob die Frauen hier ebenfalls … dann die starren Blicke auf den Boden oder die nächste Wand.
Krieg ist Scheiße, totale Scheiße, sagt der Soldat Gebrezher Abrha, der in drei Kriegen der Tigrayischen Volksbefreiungsfront gekämpft hat, dem Guerillakrieg gegen die äthiopische Militärdiktatur, dem Krieg gegen Eritrea und nun im Tigray-Krieg. Im Vergleich zu diesem sind die letzten beiden gar keine richtigen Kriege gewesen, sagt er: Dieser Krieg war, wie wenn man ein Feld mäht. Um die 500.000 Menschen sollen gestorben sein, die meisten von ihnen Zivilisten, in nur zwei Jahren.
Samrawit überlebte fünfjährig schwer verletzt ein Massaker an 19 Dorfbewohnern, darunter ihre Mutter. Die eritreischen Soldaten hielten sie offenbar für tot. Sie ist völlig verstört und wächst seitdem nicht mehr, in beinah zwei Jahren keinen Zentimeter, berichtet der Vater, den wir später trafen.
Samrawit ist alles, was ich noch habe, sagt der Vater. Nicht nur seine Frau kam bei dem Massaker um, sondern auch sein anderes Kind. Er schuftet und spart, um Samrawit für eine psychologische Behandlung in der Traumastation nach Mekelle zu bringen.
Das ist der Abt Teklemaryam aus der Reportage, den die Angreifer fragten, ob er für sie beten würde. Auf den Straßen vor dem Kloster lagen die Leichen der Ermordeten.
Das (also rechts) ist der Flughafen von Shire, von dem aus ich nach Addis Abeba zurückgeflogen bin (immerhin mit Träger für meinen Koffer!).
Auch in Amhara wurden zahlreiche Menschen umgebracht. Ihre Mutter saß an der Straße, als aus einem Trupp tigrayischer Soldaten plötzlich auf sie geschossen wurde. Die Mutter war sofort tot. Das Ausmaß und die Systematik der Kriegsverbrechen ist allerdings in Tigray nach allem, was ich sah, deutlich umfassender. Ihre Mutter etwa hatte nicht damit gerechnet, daß jemand auf sie schießen würde, als sie die Soldaten sah. Von meiner Reise durch Amhara werde ich gesondert berichten.
Zugleich, jetzt wieder, ist Äthiopien eines der wunderbarsten Reiseländer, durch die ich je kam, die alte Kultur, das gute Essen, tolle Möglichkeiten fürs Trecking, eine überwältigende Natur und …
…die herzlichen, gelassenen, selbst in den Weltattraktionen wie Lalibela nie aufdringlichen Menschen.
Ich fragte diesen Mönch in einem Bergkloster, ob er eine Botschaft für die Menschen in der Welt habe. Er sagte: Sag ihnen, daß sie uns wieder besuchen sollen.
Hier mein phantastisches Team in Tigray: rechts Gebrehiwet Redae (Begleiter/Übersetzer), links Berihu Teklay (Fahrer). Gebrehiwet ist auch ein hervorragender Wanderführer (+251-91-4205694), der mehrtägige Touren durch die denkbar abgelegensten und schönsten Gebirge organisiert; Übernachtung in den Dörfern, der Großteil der Einnahmen bleibt bei den Bewohnern. Abeba Hailu von Abeba-Tours organisiert alle Arten von Reisen in Tigray und ist wunderbar: abebatours@gmail.com. Grundsätzlich ist Tourismus wieder möglich und sicher in Tigray, wenn man einige Einschränkungen und Beschwernisse in Kauf zu nehmen bereit ist. Beschenkt wird man dafür mit unvergeßlichen Eindrücken und großer Dankbarkeit.
Für Lalibela und Umgebung (auch Wandertouren) kann ich den Führer Estifanos sehr empfehlen (+251-91-4669242).
Das Hilfswerk Avicenna e.V., das mein verstorbener Vater gegründet hat und heute von Dres. Bita & Khalil Kermani geleitet wird, unterstützt drei ausgewählte Projekte in Tigray, die ich persönlich besucht habe und bei denen ich sicher bin, daß jeder Cent die Bedürftigen erreicht: Die Station für unterernährte Kinder in Aksum, die Traumastation für Opfer sexueller Gewalt in Mekelle (beides siehe oben) sowie das Kinderheim in Wuqro, in dem 160 Waisenkinder leben; fast alle Lehrer und Betreuer sind selbst in dem Heim aufgewachsen, und das merkt man ihnen an: Es ist nicht wie eine Familie für sie, sondern die Familie selbst. Ausgerechnet ein Waisenheim war der einzige Ort auf meiner Reise durch Tigray, in dem die Stimmung ausgelassen war , mit lachenden, singenden, spielenden Kinder und sogar wieder mit dem ersten Schulunterricht, obwohl noch kein Gehalt ausgezahlt werden kann. Vor Ort werden die Spenden jeweils von mir bekannten, sehr engagierten Einheimischen sowie lokal tätigen europäisch-äthiopischen NGOs verwaltet, die Vereine Selam, Hawelti sowie Etiopia-Witten.
Sollten genug Spenden zusammenkommen, würden wir weitere Projekte unterstützen, etwa Hilfe für Binnenvertriebene in den ländlichen Regionen. Gern können sich Interessierte auch mit eigenen Ideen und Projekten für die Menschen in Tigray (oder auch anderswo in Äthiopien und auf der Welt) an meinen Bruder und meine Schwägerin wenden; Kontaktmöglichkeiten auf der website von Avicenna.

Spendenkonto (bitte Stichwort „Tigray“ angeben + Adresse, falls eine Spendenquittung fürs Finanzamt zu erwünscht wird):
Avicenna Kultur- und Hilfswerk e.V.
Deutsche Apotheker- und Ärztebank – apoBank
IBAN: DE 55 3006 0601 0005 0195 00
BIC: DAAEDEDDXXX

Vielen Dank!
P.S.: Den Abend vor dem Rückflug nach Deutschland durfte ich mit Mulatu Astatke verbringen, dem größten Jazzmusiker Afrikas, dessen Platten ich immer höre. Hier ein Bild aus seinem Jazzclub in Addis Abeba. Auch davon ist noch gesondert zu berichten, spätestens im Buch.

Alle Bilder: Copyright Navid Kermani.