Leseprobe

Navid Kermani, Du sollst

Erhebe nicht Seinen,
deines Gottes Namen zu Nichtigem

– Sag nicht, daß du mich liebst.
Er sah, daß sie sah, daß er den Atem anhielt. Eine Sekunde, ihre fragenden braunen Augen, zwei Sekunden, die Kontraktion ihrer Scheide, drei, ihr offener Mund. Als er ausatmete, hatte sie es nicht gesagt.
Nie sagten sie sich, daß sie sich liebten. Er wollte das nicht, er hatte es ihr verboten. Seine Liebe hatte er erklärt, indem er erklärte, niemals von Liebe zu sprechen.
– Ich werde niemals sagen, daß ich dich liebe, und versprich mir, daß du es auch nie sagst, noch mich danach fragst.
– Wie bitte?
– Ich werde niemals sagen, daß ich dich liebe, und versprich mir, daß du es auch nie sagst, noch mich danach fragst.
– Was soll das? Was meinst du?
– Versprich es mir einfach.
Weil sie nichts sagte, legte er seine rechte Hand um ihren Hals und küßte sie zum ersten Mal. Er küßte sie auf den Mund. Das war gefährlich, denn sie hatte noch nicht versprochen, von Liebe nicht zu sprechen. Ihm fiel auf, daß ihre Lippen trocken waren. Seine waren es nicht. Ihm fiel auf, wie seine Lippen die ihren benetzten. Er öffnete die Augen, die Lippen noch immer auf ihrem Mund, die Zunge darinnen, und blickte auf ihre gesenkten Lider, in denen sich Äderchen wie gehaucht verästelten. Sein Blick spazierte auf der oberen Hälfte ihres Gesichts umher. Wie schön sie war, dachte er, das Gesicht so schmal, daß er es mit beiden Augen umarmte. Er spürte ihre Wangenknochen, die sich sanft erhoben. Eine braune Linie entdeckte er in der Narbe, die sie auf der Stirn trug, fingerkuppenlang. Es war keine spontane Entscheidung gewesen, sie zu küssen. Er hatte es sich für den Fall ihres Zögerns überlegt. Wenn er sie küßte, so hatte er gedacht, würde sie ihm seine Liebe glauben, ohne daß er sie aussprach, und er brächte sie vielleicht dazu, das Versprechen abzugeben, ohne es zu verstehen. Erklären konnte er es nicht. Sie mußte es unbesehen versprechen: nicht zu reden, über alles zu reden, aber nicht darüber. Unscharf wegen der Nähe, beobachtete er, wie sich im Winkel ihres rechten Auges eine Träne bildete. Ihre Zunge trat ein in seinen Mund. Sein Herz pochte gegen die Brust, daß sie es spürte. Die Träne lief ihren Wangenhügel herauf und hinunter. Vor Verwunderung über das Glück und um es auszukosten, schloß er die Augen, doch kam ihm im gleichen Augenblick schon der Gedanke, sie jetzt noch einmal auf das Versprechen anzusprechen. Er wartete einige Sekunden, bis ihre Zunge, weil sie bedächtiger empfangen wurde, als sie erwartet hatte, sich zurückzog. Dann führte er seine Lippen einen Atemhauch von den ihren fort.
– Ich werde niemals sagen, daß ich dich liebe, und versprich mir, daß du es auch nie sagst, noch mich danach fragst.
Ihre Lider öffneten sich. Beinahe flehend schaute sie ihn an aus feuchten Augen. Den Blick würde ihm kein anderer Mensch je anvertrauen, das wußte er.
– Ich verspreche dir, was immer du willst.
– Versprich mir, daß du nie von Liebe sprichst.
Bereits in den ersten Monaten ihres gemeinsamen Lebens bemerkte sie, daß er mehr mied als nur ein Wort. Er nahm sie nicht in den Arm. Nicht einmal in Worten streichelte er sie. Er küßte sie nicht bei Tage. Ihre Zärtlichkeiten wies er nicht ab, aber er entwand sich, wann immer sie sich ihm in Liebkosung näherte, nicht sofort, nicht erklärt, aber bei allem höflichen Bemühen, sie nicht zu verletzen, so bestimmt, daß sie immer längere Zeit brauchte, um es auf eine Wiederholung ankommen zu lassen, und allmählich davon abließ. Dennoch schien sie nur selten an seiner Liebe zu zweifeln. Mochte sie noch so sehr vermissen, was er ihr versagte – noch stärker empfand sie seine Geschenke. Es war, als ob er seine Liebe zurückhielt, um sie rein zu halten, konzentriert. Wenn sie miteinander schliefen, bestürmte er sie. Wenn sie niedergeschlagen war, verzweifelt oder krank, kümmerte er sich nicht bloß um sie; er gab auch seine Einsamkeit auf, bis sie wieder bei Kräften war.
– Warum wendest du dich mir nur zu, wenn ich schwach bin oder nackt?
– Nur wenn du schwach bist, brauchst du mich. Nur wenn du nackt bist, dringe ich zu dir vor.
Sie wurde nicht glücklich, nein, das nicht. Sie konnte nicht begreifen, was ihn zurückhielt. Seine Askese erbitterte sie. Aber die Sorgsamkeit seines Bekümmerns und die Leidenschaft seines Körpers waren mehr, als sie je von einem Mann erfahren hatte. Dabei waren es viele Männer gewesen. Dabei war es so wenig, was er sie erfahren ließ. Oft schaute sie ihn an und empfand nichts als Ungenügen. Indem er sich ihr entzog, nahm er Besitz von ihr. Mit der Zeit wagte sie nicht mehr, seine Nähe zu verlangen, und tat es doch mit jedem Blick, um so flehentlicher, je abweisender er ihr schien. Dabei hatte sich sein Verhalten nicht geändert. Mit stiller Konsequenz entschädigte er sie, wenn sie das Bett teilten, ihren Teppich oder den Küchentisch. Nie redete er dann.
– Nur wenn wir schweigen, sprechen wir.
Selten gönnte er ihr das Gefühl, daß sie die Gebende sei. Er bestimmte. Er beschenkte. Er kreiste mit der Zunge in ihrem Geschlecht. Selbst wenn sie auf ihm saß, fühlte sie sich von seinen Händen bewegt. Selbst wenn seine Hände sich in das Bettgitter verkrampften, hielt er sie fest. Seine Lippen wanderten, über ihren Mund, über den Körper, bis hinein in die Ritze ihres Gesäßes, in die Schulterblätter, die sich vor Erregung zuspitzten, in die Kniekehlen. Die Zuckungen ihrer geküßten Zehen zogen sich hoch zu den Oberschenkeln, ja bis an die auslaufenden Nerven ihres Geschlechtes. Ihre Küsse nahm er bloß hin. So kam es ihnen beiden vor, ohne daß sie es je benannt hätten. Natürlich suchte sie die Schuld bei sich: sie könne nicht küssen, ihn nicht befriedigen, ihr fehle die Sensibilität für seine Empfindungen. Er wußte, was sie dachte und daß es nicht stimmte. Sie selbst konnte die Seligkeit nicht übersehen, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Sie waren eins geworden. Sie lag zwischen seinen ausgestreckten Armen. Aber sie glaubte nicht, daß sie es war, die die Seligkeit hervorbrachte. Sie war nur der Spiegel, in dem er sich gefiel. Sie wollte nicht nur sein Gegenstand sein, sie wollte nicht nur seine Gaben reflektieren. Wenn nichts anderes, wollte sie ihm wenigstens danken, ihm ihre Liebe übermitteln.
Sie schaute ihn an. Er stöhnte nur leise; alle Erregung war zusammengezogen in den Augenfalten. Selbst jetzt hielt er sich zurück, dachte sie. Er schreit nicht, er bringt mich zum Schreien. Sie waren eins geworden, indem er sie einverleibt hatte oder indem er sich in ihr auflöste. Sie wußte es nicht. Sie wußte nur, daß er mit ihr eins geworden war, nicht sie mit ihm. Für ihn machte das keinen Unterschied. Sie wurde still, nur ihr Atmen war zu hören. Sie wollte ihn anreden, sie rang nach einem Satz, ohne ihn fassen zu können. Früher hatte sie immerfort geredet, da hatte sie gelacht im Bett. Mit ihm unterließ sie es. Mit ihm kam sie sich im Bett vor wie in einer Kirche. Und wirklich: Er ließ nicht gelten, was ihm unwesentlich erschien. Unwesentlich schien sie ihm zu sein, der sich selbst genügte. Er bemerkte, daß sie still geworden war. Er hörte nichts als ihrer beider Atem. Er sah ihre Lippen, die sich aufeinanderpreßten. Sie wollte etwas sagen.
– Sag nicht, daß du mich liebst.
Er sah, daß sie sah, daß er den Atem anhielt. Eine Sekunde, ihre fragenden braunen Augen, zwei Sekunden, die Kontraktion ihrer Scheide, drei, ihr offener Mund. Als er ausatmete, hatte sie es nicht gesagt.

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